Malte Weber
Hund schwieg
Der Hund war ihnen nachgelaufen. Gemerkt hatten sie es erst,  als sie schon eine gute Stunde unterwegs gewesen waren. Zu einem Zeitpunkt, an  dem sie den zerzausten Halbwolf schon beinahe wieder vergessen hatten. Genau  wie den Wirt, der ihnen in einer Mischung aus Deutsch, Italienisch, Händen und  Füßen erklärt hatte, dass der Hund wohl nirgendwo hingehöre, was der Wirt  weniger seltsam fand als die Tatsache, dass der Hund eine konsequente Abneigung  gegenüber Fleischwaren jeglicher Art hatte. Jedenfalls versuchten sie zuerst,  den Hund zum Umkehren zu bewegen, aber offenbar verstand er weder Deutsch noch  Englisch. Italienisch konnten sie beide nicht. Abgesehen davon mussten sie  beide schon in ihrem Alltag so viele Dinge mit anderen Leuten diskutieren, die  sie eigentlich nicht diskutieren wollten, dass sie keine Lust darauf hatten,  das auch in ihrem Urlaub noch zu tun. Und so kam es, dass der Hund ihnen  hinterher trottete.
Und je länger sie liefen, desto mehr gewöhnten sie sich an  ihren stillen Wegbegleiter, bis seine Gegenwart so selbstverständlich war wie  der blaue Himmel, die schroffen Berge und die endlose Einsamkeit um sie herum.  Hund, wie sie ihn nannten, gehörte einfach dazu.
Manchmal fragten sie Hund, ob er nicht doch lieber  zurückgehen wolle, nach Hause, aber Hund schwieg. Manchmal fragten sie Hund,  warum er kein Fleisch esse, aber auch dazu wollte Hund sich nicht äußern. Hund  schwieg, wenn morgens die Sonne über den Gipfeln aufging, dass es einem fast  den Atem raubte. Hund schwieg, wenn sie abends erschöpft in die Schlafsäcke  fielen und Hund schwieg, wenn sie ehrfürchtig feststellten, dass es Natur gab,  die sich niemals von Menschen würde bezwingen lassen. Hund schwieg, als Sven  zum ersten Mal sein rotes Kleid anzog, obwohl das zum Wandern nur bedingt geeignet  war. Hund schwieg, als Linus und er sich küssten. Und Hund schwieg, als sie  beide die Verlobungseinladungen in einen Briefkasten steckten, der nur einmal  pro Woche geleert wurde, aber immerhin.
Hund schwieg, wenn sie abends gemeinsam überlegten, wie es wohl  wäre, Kinder zu haben. Hund schwieg, wenn sie verzweifelten, weil es so unfair  war, dass sie in der Einöde der Alpen so viel unbeschwerter zu zweit sein  konnten, als in jeder handelsüblichen Fußgängerzone und Hund schwieg, wenn Sven  seinen Freund still in den Arm nahm, weil man auf manche Traurigkeit nicht mit  Buchstaben antworten konnte.
Hund schwieg, als sie im Gebirgsbach umhertollten wie kleine  Jungs. Als sie lachend auf der Wiese lagen und in den Wolken allerlei Blödsinn  zu erkennen glaubten und als die Blasenpflaster aufgebraucht waren und weit und  breit nichts war, wo man neue hätte kaufen können. Hund schwieg, als sich der  Sternenhimmel über sie wölbte, Hund schwieg, als sie zum ersten Mal einen Adler  sahen und Hund schwieg, als sie an einer Berghütte das erste Mal seit Tagen  wieder Wlan hatten. Hund schwieg, als Linus die Tränen kamen und Sven die  Fäuste ballte, weil ein weiteres Land dieser Erde Gesetze erließ, die ihre  Liebe unter Strafe stellten und selbst der Mont Blanc so aussah, als wäre es  ihm rätselhaft, warum Menschen dem vermeintlich anderen immer mit Gewalt  begegnen müssen.
Hund schwieg, als klar wurde, dass sich der Urlaub bald dem  Ende nähern würde. Als Linus anfing, die ersten Meetings vorzubereiten und Sven  versuchte, daran zu glauben, dass er eines Tages einen Job finden würde, in dem  es ihm nicht nur rechtlich möglich wäre, er selbst zu sein, sondern auch in der  Realität. Und Hund schwieg, als die beiden ihm erklärten, sie würden ihn mit  nach Hause nehmen, so er denn wolle.
Auch am letzten Abend, als sie ein letztes Mal die Sonne  untergehen sahen, hinter den rosa leuchtenden, schneebedeckten Gipfeln, hinter  den Alpen, deren Großartigkeit und Größe durch das rosa Glitzern eher noch  größer als kleiner wurde, auch an diesem letzten Abend gab es von Hund weder  ein Bellen zu hören noch ein Winseln, Jaulen oder Hecheln. Hund schwieg, als  sich Sven und Linus bei den Händen fassten und sich nicht nur ihre Liebe  versprachen, sondern auch, dass sie nie vergessen würden, wie frei sie sich  gefühlt hatten, wie leicht und wie beschützt von der Natur, für die jedes Leben  wertvoll war. Als sie sich versprachen, nicht nur der Kälte des Abends, sondern  auch der Kälte des Alltags mit der Wärme ihrer Liebe zu begegnen, aller  Widrigkeiten zum Trotz. Hund schwieg selbst dann, als der letzte Sonnenrest  hinter den Gipfeln verschwand und trotzdem noch den Eindruck hinterließ, als  könnte alles gut werden. Hund schwieg. Aber es sah aus, als würde er lächeln.